Ulrich Blanché/Ricore Medien
Anne Novion in München
Darroussin und Novion nachdenklich
Interview: "Sind wir alle erwachsen?"
Anne Novion und Jean-Pierre Darroussin erscheinen gemeinsam zum Interview im sonnigen München anlässlich des Deutschlandstarts von "Wir sind alle erwachsen". Mittfünfziger Darroussin ist in Frankreich ein etablierter Schauspieler, die 29-jährige Jungregisseurin rührt die Werbetrommel für ihren ersten Spielfilm. Trotz des Alters- und Erfahrungsunterschieds sind die beiden sehr vertraut miteinander.
erschienen am 7. 05. 2009
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Jean-Pierre Darroussin in München
Ricore: Albert ist erwachsen, verhält sich teils jedoch wie ein kleiner Junge. Inwieweit sind Sie noch ein kleiner Junge/Mädchen?

Jean-Pierre Darroussin: Insofern, dass ich Enthusiasmus, Begeisterung für Dinge aufbringen kann. Ich bin wie ein kleiner Junge, wenn es um Geschichte geht. Damit nerve ich meine Töchter, weil ich ihnen immer alles ganz genau erklären will, wie auch Albert im Film. Diese Leidenschaft versuche ich ihnen zu vermitteln.

Ricore: Wie alt sind Ihre Töchter?

Darroussin: 14 und 17 Jahre.

Anne Novion: Was den Enthusiasmus anbetrifft, stimme ich Jean-Pierre zu. Bei mir geht es jedoch mehr darum, wie ein Kind in einer Phantasiewelt leben zu können. Dort ist alles möglich, was für mich als Filmemacherin wichtig ist. Die Phantasiewelt kann schöner als die Realität sein.

Ricore: Wie haben Sie sich als Albert oder Jeanne im Verhältnis zu Ihren Töchtern beziehungsweise zu Ihrem Vater wiedererkannt?

Novion: Man kann nicht sagen, dass ich Jeanne sehr ähnlich bin. Auch ähnelt Albert kaum meinem Vater. Im Detail stimmt das schon. Jeanne beispielsweise beobachtet gerne und viel. Mein Vater gehört nicht zu denen, die mit dem Metall-Detektor durch die Gegend rennen. Im Film übertreibt man immer. Er war jemand, der auch viel organisierte. Wenn wir zusammen in die Ferien fuhren, bereitete mein Vater immer viel vor, zeigte mir Dinge, die ich jedoch oft als langweilig empfand. Das gibt es oft zwischen Eltern und Kindern. Die Eltern finden das ganz spanend für die Kinder, die jedoch sind schon in einem Alter, wo sie eigentlich gerne etwas anderes machen würden.

Darroussin: Ich habe mich insofern wiedererkannt, als ich jetzt weniger Druck auf meine Töchter ausüben will. Ich habe das wohl ein wenig übertrieben. Wie Albert habe ich diese Tendenz, ständig viel zu vermitteln. Ich habe versucht, mir das ein wenig bewusst zu machen, dass ich im Bereich Schule und Wissen übertrieben habe. Wissen ist für mich der Schlüssel zu einer Verzauberung und Begeisterung, um im Leben zu wissen wo man sich befindet. Ich weiß, dass meine Töchter zurzeit ganz andere Probleme haben.
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Anne Novion in München
Ricore: Bei einem Debütfilm erntet man oft viel Kritik. Wie gingen Sie damit um?

Novion: Ich hatte Glück. Die meisten Kritiker haben mich wohlwollend behandelt. Was kritisiert wurde, waren meist Details, die mich nicht persönlich tangierten. Allgemein glaube ich, wenn man sich einer Sache verschreibt und das tun kann, wie man will, ist das schon ein Erfolg. Als Regisseur versuche ich, Film und Kritik von einander zu trennen. Alles ist subjektiv, das ist menschlich. Nur weil die Kritik schlecht ist, heißt das nicht, dass der Film schlecht ist. Auch ist man kein Genie, weil der Film gut beurteilt wurde. Man muss Distanz zur Kritik wahren. Sie darf einen nicht so runterziehen. Stattdessen sollte man sich die Lust bewahren, weiter zu arbeiten und seinen Geschichten zu erzählen.

Darroussin: Man kritisiert sich selbst während des gesamten Schaffensprozesses. Natürlich kann die Kritik anderer konstruktiv sein, meist jedoch erst zwei drei Jahre später. Kurz nach dem Film will man sich dieser Kritik oft gar nicht aussetzen, da lehnt man eh ab, was andere dazu sagen. Oft spielgelt Kritik genau das wieder, was man sich selbst schon dachte. Dann arbeitete man damit. Manchmal denkt man sich jedoch, dass man es jetzt trotzdem so macht, wie man es selbst für richtig hält. Es ist wie im wahren Leben: Manchmal arbeitet man mit der Kritik, manchmal trotz und gegen die Kritik.

Novion: Oft nimmt man aufgrund des eigenen Stolzes Kritik schlecht auf. Man ist verletzt und traurig. In zwei oder drei Zeilen auf einem Stück Papier wird meine Arbeit von Jahren zunichte gemacht. Anfangs findet man das hart, später zieht man jedoch eine gewisse Stärke daraus: "Ich mache dennoch weiter und zeige ihnen, dass sie falsch liegen. Mit meinem nächsten Film führe ich den Beweis an, dass ich recht hatte." Das kann auch eine Quelle der Kraft sein.
Alamode Filmverleih
Wir sind alle erwachsen
Ricore: Der Film heißt in der deutschen Synchronfassung "Wir sind alle erwachsen". Wann ist Ihrer Meinung nach der Punkt erreicht, wenn man erwachsen ist?

Novion: Ich hatte als Jugendliche und Einzelkind die Angewohnheit, Erwachsene zu beobachten. Ich fragte mich, was passiert, wenn ich selbst erwachsen werde und was der Unterschied zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt ist, was da passiert. Als Kind hat man eine gewisse Naivität. Erwachsene müssen alles ausdiskutieren. Sie haben philosophische Ansätze und das Gefühl, alles, was sie fühlen, mit Worten belegen zu müssen. Sie wollen immer benennen, was sie tun. Als Kind macht man vieles instinktiv und spontan. Mit dem Abstand, den man als Erwachsener gewinnt, fängt man an zu reflektieren, was man tut. Daher hat man oft Angst. Man kann nie sagen, wann dieser und jener Endepunkt war. Man sieht wie Sachen sich verändern. Ich bin jetzt 29 Jahre alt und keine 50. Dennoch habe ich schon jetzt den Eindruck, dass sich Dinge nicht abrupt ändern.

Darroussin: Klar gibt es verschiedene Etappen im Leben eines Menschen. Zuerst ist man das Kind seiner Eltern, was man auch immer bleiben wird. Lange ist nichts anderes wichtig. Dann wird wichtig, dass man der Mann oder die Frau eines anderen Menschen ist. Oder man ist für ein Unternehmen verantwortlich. Später kommt der Moment, wo man selbst Kinder hat, wo man also noch weniger Kind seiner Eltern ist, sondern selbst Verantwortung übernimmt. Man bleibt das Kind seiner Eltern. Gleichzeitig ist man Elternteil und verantwortlich, ist Ehemann oder -frau, wird Großelter und so weiter. Diese sozialen und sentimentalen Zugehörigkeiten und -schichten werden immer mehr. Man kann das auch nicht wieder abbauen. Man muss lernen, in sich selbst einen Raum für alle Sachen zu schaffen, die hinzukommen. Anfangs ist man nur Kind, dann schafft man Platz für Freunde und so geht es weiter. Man muss lernen, auch für andere Sachen Platz zu schaffen.
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Jean-Pierre Darroussin in München
Ricore: Was änderte sich bei Albert nach der im Film beschriebenen Reise?

Darroussin: Albert lernt, seinen übersteigerten Selbstschutz aufzugeben. In seinem Leben und Liebesleben gibt es eine große Einsamkeit. Er musste viele Rückschläge einstecken und es gibt viel, was er überspielen muss. Das macht er, indem er sein Leben pragmatisch bis in den letzten Winkel durchorganisiert. Alles hat seinen Platz. Fast schon manisch versteckt er sich hinter sicheren Mauern. Schließlich sitzt er von allen allein gelassen auf diesem Felsen und hat wahninnige Angst, zurückgelassen zu werden. Er realisiert, dass er mit seinem lächerlichen Verhalten nicht weiter kommt. In diesem Moment streckt er die Waffen und öffnet sich den anderen. Er sagt dann, dass er sie mag und liebt. Er fährt seinen Selbstschutz zurück und versteckt sich nicht mehr unter all den durchorganisierten Umständen in seinem Leben. Er traut sich, er selbst zu sein.

Novion: Man kann sagen, dass Albert seine Verletzlichkeit akzeptiert. Er ist den anderen gegenüber immer misstrauisch. Er hat sogar Angst vor ihnen. Daher organisiert er seine eigene kleine durchorganisierte Welt mit seiner Tochter. Diesen Sommer stellt er fest, dass es sein könnte, dass die Tochter ausbricht. Davor hat er am meisten Angst. Er ist ein wenig paranoid und denkt, dass alles aus Berechnung passiert und keiner was ohne Gegenleistung macht. Im Film sagt er: "Jeanne, pass auf was du tust. Die Leute wollen immer eine Gegenleistung. Sei nicht so naiv." Als er hilflos auf dem Felsen sitzt, merkt er, dass er die anderen braucht. Sonst würde er nämlich verhungern! Dann kommen die Anderen und helfen ihm. Sie wollen kein Geld von ihm, sondern retteten ihn einfach aus Nettigkeit, Freundschaft oder Solidarität. Da streckt er die Waffen und sieht ein, dass die Anderen nicht nur Gegner sein können, sondern auch Partner. Das gilt auch für die Politik. Auch da gibt es den Moment, wo ein Politiker einsieht, dass sich das Volk emanzipiert und sich etwas Positives entwickelt. Leider passiert das sehr selten.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 7. Mai 2009
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Jean-Pierre Darroussin war schon in der Schule vom Theater begeistert. Nach ersten Bühnenerfahrungen spielte der 1953 geborene Franzose seit 1978 in über 80 Spielfilmen mit. Als Hippie in der Komödie "Mes meilleurs copains" von Jean-Marie Poiré wurde Darroussin 1989 in Frankreich bekannt. Für seine Rolle in "Un air de famille" wurde er 1997 in der Kategorie Bester Nebendarsteller mit dem César geehrt, insgesamt war er bereits vier Mal nominiert. 2005 spielte Darroussin in "Mathilde - Eine..
Ohne je eine Filmschule zu besucht zu haben dreht Anne Novion seit ihrem 19. Lebensjahr Kurzfilme. 2008 nahm sie ihren ersten Spielfilm in Angriff: "Wir sind alle erwachsen", wurde in Frankreich ein Achtungserfolg und zudem in 25 Länder verkauft. Die 1981 in Paris geborene Novion ist halb Schwedin und halb Französin. Sie schrieb ihre Masterarbeit über Ingmar Bergman. "Wir sind alle erwachsen" wurde nach Cannes (Semaine de la Critique) und zu den Hofer Filmtagen eingeladen.
Der alleinerziehende Spießer Albert (Jean-Pierre Darroussin) macht mit seiner 17-jährigen Tochter Jeanne (Anaïs Demoustier) Urlaub auf einer schwedischen Insel. Aufgrund eines Missverständnisses ist das gebuchte Ferienhaus bereits von Annika (Lia Boysen) und Christine (Judith Henry) belegt, zwei Frauen mittleren Alters. Das verwirrt Alberts akribische Urlaubsplanung und zwingt alle Beteiligten, ihre Standpunkte zu überdenken. Jung-Regisseurin Anne Novion gelang ein unterhaltsames wie..
2024