Sissi Makovec/Österreichisches Filmmuseum
Apichatpong Weerasethakul zu Gast im Filmmuseum
Film ist Konservierungsmaschine
Interview: Apichatpong Weerasethakuls Geister
Die Filme von Apichatpong Weerasethakul gehören zum Rätselhaftesten und Anspruchsvollsten, welches das Autorenkino derzeit zu bieten hat. Sie bieten dem Zuschauer Grenzerfahrungen und lassen ihn mit vielen Fragen aus dem Kino. Antworten zu seinem Werk gibt der thailändische Regisseur wie viele Künstler nur ungern. Dazu habe er viel zu großen Respekt vor der Vorstellungskraft des Zuschauers. Filmreporter.de stand er anlässlich seines in Cannes ausgezeichneten "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" dennoch Rede und Antwort.
erschienen am 5. 10. 2010
Movienet Film
Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben
Ricore: Herr Weerasethakul, wir befinden uns nicht zufällig im Haus der Kunst. Hier wurde 2009 Ihre Primitive-Installation ausgestellt. Einer Ihrer größten Erfolge als Künstler, oder?

Apichatpong Weerasethakul: Ja, das war eine der großen Solo-Ausstellungen. Es war auch eine sehr persönliche Sache, weil es einen Bezug zu meiner Herkunft herstellte. Es ist schön, wieder hier zu sein.

Ricore: Auch Ihre Filme erfahren immer wieder Anerkennungen in Form von Auszeichnungen. "Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" wurde in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Wie wichtig sind solche Ehrungen für einen ambitionierten Filmemacher?

Weerasethakul: Sie helfen, die Filme an die Zuschauer zu bringen. Das ist mir vor allem auch für mein thailändisches Publikum wichtig. Wenn ich dort 100 Menschen erreichen kann, bin ich glücklich. In Thailand ist die Kinoindustrie sehr uniformiert, wir brauchen dort andere Stimmen.

Ricore: In gewisser Weise haben Preise dieselben Funktionen, wie Museen: Sie sind Anerkennung und gleichzeitig eine Bühne für andere Filme.

Weerasethakul: Ja, so kann man das sehen. Bildende Kunst und Filme sind miteinander verschränkt. Sicher gibt es zwischen ihnen Unterschiede aber auch eine Menge Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel erzeugen beide Bilder bzw. bewegende Bilder. Ich möchte die Grenze zwischen der bildenden Kunst und Film näher erforschen.

Ricore: Sie trennen Ihr Dasein also nicht in die des bildenden Künstlers und des Filmkünstler? Ist das für Sie das Gleiche?

Weerasethakul: Die Grenze verschwimmt immer mehr. Vielleicht ist der Kontext und in welchem Raum - Kino oder Museum - das Werk gezeigt wird, das Unterscheidungsmerkmal zwischen der bildenden Kunst und Film.
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Apichatpong Weerasethakul
Ricore: Ihr Werk ist rätselhaft und schwer zugänglich. Dadurch provoziert es immer wieder Fragen nach der Bedeutung des Gezeigten. Fühlen Sie sich als Künstler wohl dabei, ihre Filme erklären zu müssen? Viele Künstler tun das ungerne, weil ihrem Werk dadurch das Geheimnis genommen wird.

Weerasethakul: Ja, genauso denke ich auch darüber. Andererseits wäre es doch eine Verschwendung, extra aus Thailand einzufliegen und keine Fragen über den Film zu beantworten (lacht). Ich habe die Verantwortung, über meine Filme zu sprechen. Aber Sie haben recht, Erklärungen und Statements machen den Film flach. Ein Maler muss seine Bilder auch nicht erklären. Ich mag es lieber, wenn sich die Zuschauer meine Filme erst ansehen und sich danach darüber informieren. Wenn meine Erklärungen sich einmischen, dann etablieren sie für den Zuschauer einen Interpretationsrahmen und das finde ich nicht gut.

Ricore: Jeder Zuschauer sollte den Film also auf seine eigene Weise sehen und verstehen?

Weerasethakul: Ja. Vorausgegangene Erklärungen können die Filmbetrachtung einschränken. Wenn ich zum Beispiel sage, dass meine Filme durchsetzt sind mit Verweisen auf die alte thailändische Filmtradition oder auf die Comic-Bücher, die ich als Kind gelesen habe, können die Zuschauer das nicht nachvollziehen, weil sie nicht denselben kulturellen Hintergrund haben.

Ricore: Trotzdem werden wir uns über "Uncle Boonmee" ausgiebig unterhalten müssen.

Weerasethakul: Keine Sorge, das werden wir (lacht).

Ricore: Wie wurden Sie zu diesem Film inspiriert?

Weerasethakul: Das Leben in Thailand ist für mich die Inspirationsquelle. Dieses Land macht eine enorme Entwicklung durch. Gleichzeitig vergessen wir viele wichtige Sachen. Es fehlt uns das politische Bewusstsein. Wir neigen dazu, die Vergangenheit zu verdrängen, was sich darin spiegelt, dass wir nicht sehr viele Museen in Thailand haben. In meinen Filmen bewahre ich die Erinnerung, vor allem meine eigene Erinnerung. "Uncle Boonmee" ist eine Hommage an die Zeit, als ich im Nordosten Thailands aufgewachsen bin. Der Film ist sehr melancholisch, zugleich ist er teilweise auch lustig. Insofern kann man "Uncle Boonmee" als melancholische Komödie bezeichnen. Es gibt viele komische Elemente und er ist sehr simpel gestrickt, wie eine Kindergeschichte. Zugleich handelt der Film vom Tod. Es ist ein Film über Abschied.

Ricore: Können Sie uns etwas über die Vorlage sagen?

Weerasethakul: Etwa im Jahr 2003 hörte ich eine Geschichte über einen Mann, der in den Tempel ging, um zu meditieren. Ein Mönch war von seinem Erlebnis so fasziniert, dass er es aufgeschrieben hat. Als er hat mir das Buch gab, wusste ich sofort, dass ich daraus einen Film machen möchte. Aber nach Jahren der Entwicklung fühlte ich, dass ich mich in die Geschichte einbringen muss. Insofern wurde "Uncle Boonmee" von der Vorlage lediglich inspiriert, er ist keine getreue Adaption.
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Apichatpong Weerasethakul
Ricore: Sie haben also viele Veränderungen vorgenommen, um ihre subjektive Vorstellung einzubringen?

Weerasethakul: Ja, alle meine Kindheitserinnerungen, an die Landschaft meiner Kindheit, an meinen Vater, der ebenfalls an einer Nierenerkrankung verstarb.

Ricore: Geister spielen in Ihren Filmen eine wichtige Rolle. Was für eine Welteinstellung steckt hinter diesem Motiv?

Weerasethakul: Geister sind etwas Universelles. Mit diesem Motiv lässt sich im Kino eine Verbindung mit dem Zuschauer herstellen. Wir alle haben Träume und wir alle haben das Bestreben, eine Verbindung mit den Toten herzustellen - vor allem mit denen, die wir lieben und die nicht mehr bei uns sind. Die Geister in "Uncle Boonmee" könnten aber auch als etwas ausgelegt werden, das im Schwinden begriffen ist. Etwa die alte thailändische Kinotradition. Die Geister in zeitgenössischen thailändischen Filmen sind wie die Geister in japanischen und koreanischen Filmen - furchteinflößend. Insofern liebe ich es, die Kinogeister der Vergangenheit zu beschwören.

Ricore: Es gibt eine schöne Szene, als Uncle Boonmee mit seinen Verwandten an einem Abend in der Veranda sitzt. Die Unterhaltung wird durch das plötzliche Erscheinen des Geistes seiner toten Frau unterbrochen. Die Protagonisten unterhalten sich mit der Toten, als wäre an ihrem Erscheinen nichts Besonderes. Westliche Zuschauer empfinden diese Szene als befremdlich, weil das nicht in ihr Weltbild passt und nicht ihren kinematografischen Sehgewohnheiten entspricht. Ist die Reaktion im asiatischen ähnlich?

Weerasethakul: Ich denke, die Reaktion ist ähnlich wie bei westlichen Zuschauern. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass das thailändische Publikum sich noch an den Rhythmus alter thailändischer Filme erinnert. Schließlich ist es mit diesen Filmen aufgewachsen. Für sie ist nichts Ungewöhnlich daran, dass Geister in der Welt existieren und mit den Menschen zusammenleben. In gewisser Weise ist für die thailändischen Zuschauer die besagte Szene lustig. Denn der Geist der Frau spricht sehr literarisch, wie eine Figur aus einem Roman. Das hat etwas Surreales. Im Ganzen ist die Reaktion auf eine solche Szene in Thailand nicht viel anders als im Westen, weil sich der Mainstream auch in Thailand immer mehr durchsetzt.

Ricore: Ein anderes Motiv ist der Gedanke von der Wiedergeburt der Seele. Onkel Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben, wie der Titel schon sagt. Dennoch verschleiern Sie das Moment der Erinnerung. Der Zuschauer ist desorientiert und kann die Bilder nicht als Erinnerungsbilder ausmachen. Es gibt keine Klarheiten in diesem Film.

Weerasethakul: Ja, es gibt keine klaren Antworten. Der Titel des Films funktioniert wie ein Schalter, der den Zuschauer zum Nachdenken bringen soll. Wenn er die Bilder sieht, kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen. Und so kann er in die Bilder alles hineininterpretieren, etwa dass Onkel Boonmee die Prinzessin, der Fisch oder eine Fliege sein könnte. Für mich bedeutet das Respekt für die Vorstellungskraft und die Fantasie des Zuschauers.
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Apichatpong Weerasethakul zu Gast im Filmmuseum
Ricore: Sie sagten eingangs, der Film handle auch vom Tod. Onkel Boonmee stirbt am Ende - ein Symbol für das Aussterben des traditionellen Glaubens an andere Welten und an Geister, für den Boonmee steht?

Weerasethakul: Ja, tatsächlich. Und auch für das Aussterben von Ideologien. Der Film bezieht sich auf politische Ideologien, die im Aussterben begriffen sind. Das alles passiert in Thailand, das sehr uniformiert geworden ist.

Ricore: Sie stellten einmal eine Verbindung zwischen Film und dem Reinkarnationsgedanken her. Können Sie das näher ausführen?

Weerasethakul: Der Film ist eine Zeitmaschine. Wenn man sich alte Filme anschaut, hat man die Möglichkeit, längst verstorbene Schauspieler lebendig vor uns zu sehen. Insofern ist der Film auch eine Konservierungsmaschine. Er gibt dem Zuschauer die Möglichkeit, in andere Welten zu treten. Der Gedanke an Reinkarnation impliziert nichts anderes als den Transport von Gedanken in andere Welten, insofern sehe ich durchaus Parallelen zwischen Film und dem Reinkarnationsgedanken.

Ricore: Ein zentraler Aspekt in Ihren Filmen ist die Natur. Die Protagonisten fliehen von der Großstadt in die Ursprungswelt. Eine Manifestation der Sehnsucht nach der Naturverbundenheit?

Weerasethakul: Die Natur ist und bleibt unser Zuhause, von dem wir uns immer mehr entfernen. Wir kommen alle aus der Natur und wir sind Natur. Insofern möchte ich meine Charaktere zurück nach Hause führen.

Ricore: Damit ist ihre Kunst auch ein Kampf gegen die Entfremdung gegen das Ursprüngliche. Indem Sie ihre Figuren zurück zur Natur bringen, bringen Sie gleichzeitig auch dem Zuschauer den Wert des Natürlichen bei, Sie bringen auch ihn nach Hause.

Weerasethakul: Ja, die Zuschauer müssen fühlen, dass sie sich von diesem wundervollen Zuhause entfernt haben.

Ricore: In diesem Zusammenhang passt auch das Motiv der Verwandlung des Menschen in ein Tier. In "Uncle Boonmee" verwandelt sich der Sohn Boonmees in einen Waldaffen. Die Natur ist uns immanent, egal wie weit wir uns vom Ursprünglichen entfernen, sie ist in uns.

Weerasethakul: Das stimmt. Wir sind Teil der Natur. Wenn wir sterben, werden wir zu Staub und kehren in die Natur zurück.
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Apichatpong Weerasethakul
Ricore: Einige Kritiker interpretieren die Verwandlung als das Animalische im Menschen. Der Mensch als Biest, können Sie sich mit dieser Interpretation anfreunden?

Weerasethakul: Es ist ok, wenn man das so sieht. Viele Menschen fühlen sich nicht wohl in ihrer eigenen Haut und so fühlen sie die Notwendigkeit, etwas anderes zu werden und zu sein. Es ist eine Art Flucht vor sich selbst. Der Mensch ändert sein Aussehen und begibt sich in den Dschungel.

Ricore: Politik spielt eine wichtige Rolle in ihren Filmen. Auch in "Uncle Boonmee" gibt es deutliche Bezüge zum politischen Geschehen. So gibt es eine Szene, in der sich Boonmee erinnert, dass er einmal Kommunisten tötete. Wie wichtig ist es für Sie, in ihren Filmen auf politische Geschehen und politische Verbrechen aufmerksam zu machen?

Weerasethakul: Für mich ist der Film eine Möglichkeit sich zu erinnern. In Thailand vergessen die Menschen viel zu leicht und viel zu schnell. Manchmal sind die Menschen sehr brutal zueinander. Es gibt auf der Welt ein System der Misshandlung, gleichsam eine Reinkarnation des Misshandelt-Werdens. Die Menschen müssen hin und wieder Einkehr halten und über ihre Handlungen reflektieren. Sie müssen sich ins Bewusstsein rufen, was auf der Welt passiert.

Ricore: Als sie vorhin über Erinnerung in ihrem Werk sprachen, dann meinten Sie, dass Erinnerung eine politische Ebene besitzt? Der Mensch darf die Vergangenheit nicht vergessen.

Weerasethakul: Ja, genau. Sich der Tatsache bewusst sein, dass wir alle einem gemeinsamen Ursprung entstammen. Und Gehirnwäsche ist eine der hässlichen Dinge, mit denen wir aktuell konfrontiert sind.

Ricore: Kann man das Erinnerungsmotiv auch als metaphysischer Akt verstehen? Erinnerung quasi als Fenster zur Wahrheit?

Weerasethakul: Zum Teil kann man das so sehen, ja. Andererseits würde ich es mit Gabriel García Márquez halten. Er sagte einmal sinngemäß, dass er sich an vieles lebhaft erinnern kann, was aber nicht bedeutet, dass die Erinnerung wahr ist.
Isabel Pluta/Ricore Text
Apichatpong Weerasethakul, Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben 2010
Ricore: Sie sagten einmal, ihre Filme seien stark von thailändischen Filmen beeinflusst. Was haben sie daraus gezogen?

Weerasethakul: Es ist die Originalität dieser Filme. Auch wenn dieses Kino durch das amerikanische Mainstreamkino stark beeinflusst wurde, hat es sich dennoch einen bestimmten Rhythmus bewahrt. So kann zum Beispiel eine gewöhnliche romantische Liebesszene schon mal zehn Minuten dauern. Diese Filme lassen sich Zeit. Auch die Handlungslinie ist immer sehr einfach. Ich denke, das ist eine Art des Erzählens, die wir in unserer komplexen Welt mit immer komplexer werdenden Filmen brauchen.

Ricore: Was sind darüber hinaus Ihre künstlerischen Inspirationsquellen?

Weerasethakul: Es gibt viele. Das Leben allein ist sehr inspirierend. Ich mache mir immer Notizen, wenn mir was Besonderes auffällt. Von den Künstlern haben mich vor allem Dominique Gonzalez-Foerster und Andy Warhol beeinflusst. Das sind Künstler, die an das Leben auf eine sehr schöne aber auch unlogische Weise herangehen.

Ricore: Ihr nächstes Projekt ist ein Film über Autor und Filmemacher Donald Richie. Können Sie uns etwas darüber sagen?

Weerasethakul: Als ich ihm mal begegnet bin, hatte ich das Gefühl, dass ich kaum eine Verbindung zum japanischen Kino habe. Der Produzent wollte das Projekt bereits ad acta legen, weil sich kein japanischer Filmemacher für die Realisierung fand. Das hat mich dazu bewogen, den Film zu machen. Auch wenn ich keinerlei Bezüge zu Richie habe, habe ich sofort zugesagt. Das gibt mir die Möglichkeit, ihn näher kennenzulernen. Er könnte mein Onkel Boonmee sein, weil er so viele Erinnerungen hat. Vor allem Erinnerungen an das Kino, insbesondere an den japanischen Film.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch
erschienen am 5. Oktober 2010
Zum Thema
In langen, ruhigen Bildern erzählt der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul die Geschichte des Titel gebenden Uncle Boonmee, der sich schwerkrank in die abgeschiedene Natur zurückzieht und sich an seine früheren Leben erinnert. Hier begegnet er auch dem Geist seiner verstorbenen Frau sowie seinem Sohn in Gestalt eines Affengeistes. "Loong Boonmee raleuk chat" - so der Originaltitel - ist ein großartiger, poetischer Film von betörender Wirkung.
Apichatpong Weerasethakul wird am 16. Juli 1970 in Bangkok geboren. Nach dem Filmstudium an der Geheimnisvolles Objekt am Mittag" präsentiert er seine erste längere Regiearbeit. Viele seiner folgenden Filme erregen Aufsehen und werden mit zahlreichen Preisen bedacht. "Blissfully Yours" läuft 2002 bei den Tropical Malady" mit dem Preis der Jury geehrt. 2006 läuft "Syndromes and a Century" im Wettbewerb der Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben" wird 2010 als erster thailändischer..
2024