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Othmar Schmiderer
"Dokumentarfilme sind so fiktiv wie Spielfilme"
Interview: Othmar Schmiderer im Chaos
20 Jahre ist es her, seit Othmar Schmiderer seinen ersten Dokumentarfilm fertig stellte. 2002 wurde seine Dokumentation "Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin" zum Erfolg, im August 2008 kommt "Back to Africa" in die Kinos. Der Film begleitet fünf afrikanische Artisten in ihre Heimatländer und zeigt ihren Zwiespalt zwischen dem Leben in Afrika und demjenigen in Europa. Wir haben uns mit dem 54-jährigen Regisseur über die afrikanische Kultur und Lebensweise unterhalten und von ihm erfahren, warum man sich auf das Chaos einlassen muss.
erschienen am 10. 08. 2008
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Back to Africa
Ricore: Was hat sie auf die Idee zu "Back to Africa" gebracht?

Othmar Schmiderer: Ich war zufällig zum Beginn der Proben zu "Afrika! Afrika!" in einer Industriehalle in Mannheim anwesend. Diese Atmosphäre inmitten von 150 afrikanischen Künstlern, dieses Feuerwerk energetischer Entäußerungen war die Zündung für den Film, die Show stand dabei nicht im Vordergrund. Ich wollte etwas über den Background der Menschen aus Afrika erfahren. Wo sie herkommen, über ihr Umfeld und ihre Lebenssituation, wie sie zu dem geworden sind was sie heute sind.

Ricore: Wie haben Sie Ihre Protagonisten ausgesucht?

Schmiderer: Das ergab sich im Lauf der Recherchen und Gespräche. Ich lernte während der Proben viele der Artisten kennen und entschied mich letztendlich für fünf Protagonisten, deren Biographien mich faszinierten, die aus unterschiedlichen Ländern kamen und die gleichzeitig ein vielfältiges Spektrum afrikanischer Lebensweisen darstellen. Entscheidend ist natürlich immer auch die persönliche Beziehung und das gegenseitige Vertrauen.

Ricore: Wussten Sie von Anfang an, dass es mehrere Protagonisten sein sollen?

Schmiderer: Es war klar, dass wir fünf Protagonisten begleiten würden. Dass die dann aber auch alle tatsächlich im Film sind ergab sich erst in der Montage. Ursprünglich wollte ich noch eine zweite Frau dabei haben, das ist leider an Gagenforderungen gescheitert.
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Back to Africa
Ricore: Welche Geschichte oder welche Reise hat sie besonders bewegt?

Schmiderer: Jede Geschichte und jede Reise hatte faszinierende Aspekte. Für mich war etwa die Geschichte des Kora-Spielers Ebraima Tata Dindin sehr bewegend, der aus einer alten Musiker-Familie stammt. Das gemeinsame Musizieren, die Dynamik und Offenheit dieser Familie, da geht einem schon so manches Mal das Herz auf. Aber auch die Lebensgeschichte von Mingue Diagne Sonko der Tänzerin und die Beziehung zu ihrem kleinen Sohn, den sie nur einmal im Jahr kurz sieht, da gab es viele bewegende Momente.

Ricore: Sie konnten immer nur wenige Tage im Heimatland der verschiedenen Protagonisten drehen. Wie schwer war es da, eine Vertrauensbasis aufzubauen und wirkliche Einblicke in die Familienstruktur zu erhalten?

Schmiderer: Das setzt ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und gegenseitigen Respekt voraus. Vor allem darf man sich selbst nicht so wichtig nehmen. Mit entscheidend ist natürlich die Homogenität und Konzentriertheit des Teams, Atmosphären zu schaffen, die es dem Gegenüber erlauben sich in der jeweiligen Situation sicher und nicht verraten zu fühlen. Natürlich spielt auch der Faktor Zeit eine wichtige Rolle und von da her hätte ich mir selbstverständlich mehr gewünscht, speziell was das Begreifen afrikanischer Familienstrukturen betrifft! Trotzdem, ich denke es ist uns schon gelungen die eine oder andere Oberfläche zu durchbrechen.

Ricore: Waren Sie für die Dreharbeiten zum ersten Mal in Afrika?

Schmiderer: Nein, ich war einige Male in Nordafrika und recherchierte auch früher schon einmal ein Projekt in Westafrika. Afrika ist aber grundsätzlich immer Neuland. Auch wenn man dort zehn Jahre leben würde, könnte man noch lange nicht alles verstehen. Für mich handelt es sich dabei immer nur um eine Annäherung an eine uns fremde Kultur und jedes Mal aufs Neue hat man damit die Möglichkeit sein eigenes Bild zu korrigieren, das ist spannend.
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Back to Africa
Ricore: Die meisten Menschen denken vor allem an große Armut und Leid, wenn sie an Afrika denken. Woher nehmen die Protagonisten Ihres Films diese unglaubliche Lebensfreude?

Schmiderer: Das hat sehr viel mit der europäischen Erwartungshaltung zu tun. Die Nachrichten transportieren ja fast immer nur Negativbilder. Dadurch gewinnt man den Eindruck, in Afrika gäbe es nur Armut, Korruption und Krieg. Über diese Faktoren kann man nicht hinwegsehen, aber es gibt auch ein ganz anderes Afrika. Es war mein Anliegen, diesen Negativbildern ein positives gegenüber zu stellen. Man muss natürlich differenzieren. Afrika ist ein riesiger Kontinent, in dem es sehr viele unterschiedliche Kulturen gibt. Das kann man nicht über einen Kamm scheren. In meinem Film geht es hauptsächlich um West-Afrika und Kongo. Meine Protagonisten haben einen sehr starken Bezug zu ihrer Heimat, sie haben sich ihre Identität bewahrt, sind nach wie vor stark mit ihrer Kultur verwurzelt, ihr Werdegang zeugt von Selbstbewusstsein, das ist sicherlich mit ein Grund für diese Lebensfreude.

Ricore: Was haben Sie von der afrikanischen Kultur gelernt?

Schmiderer: Gelassenheit, Lebenskunst, Lebensfreude und nicht immer den eigenen Vorstellungen nachzulaufen. Sich mit dem Unvorsehbaren, dem Chaos auseinander zu setzen und sich darauf einzulassen. Im Moment zu leben ist ein wichtiger Faktor. Das hat sehr viel mit der Dimension der Zeit zu tun, in Afrika gibt es eine ganz andere Zeitwahrnehmung als bei uns. Daraus können wir auch das ein- oder andere lernen. Nicht zuletzt seine eigene Kultur in Frage zu stellen.

Ricore: Wie erklären Sie sich die große Bedeutung von Tanz und Musik in der afrikanischen Kultur?

Schmiderer: Da gibt es viele Gründe, das ist einfach tief in der afrikanischen Kultur verwurzelt. Tanz und Musik gehören zum Alltag, beides hat oft auch religiöse Aspekte. Bis zur Kolonialisierung gab es in Afrika ja keine Schrift. Deswegen wurden Traditionen, Regeln oder auch literarische Elemente verpackt in Tanz und Gesang weitergegeben.
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Mingue Diagne Sonko
Ricore: Welches Ereignis hat Sie auf Ihren Reisen besonders beeindruckt?

Schmiderer: Die Kunst der Improvisation und generell die Offenheit der Menschen, das freudige und offene Aufeinandergehen und eine spezielle Art der Lebensfreude, die man bei uns in diesem Ausmaß nur mehr selten findet. Besonders beeindruckend war die Neugier und der Reichtum an Phantasie bei Kindern. Die basteln zum Beispiel aus einer Dose, einer Schnur und einem Stück Holz ein Filmequipment und stellen ein Filmteam mit allem drum und dran dar - faszinierend - diese Genügsamkeit! Ich denke oft welche "Armut" eigentlich im Überfluss liegt!

Ricore: Wie genau können Dokumentarfilme die Realität abbilden? Die gefilmten Menschen sind sich ja der Anwesenheit der Kameras bewusst und reagieren vielleicht anders, als sie es sonst täten.

Schmiderer: Eigentlich ist das eine philosophische Frage: "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" Für mich ist der Dokumentarfilm genauso fiktiv wie ein Spielfilm. Die Frage ist immer: "Welchen Kontext setze ich in der Montage?". Die Fiktion ist Bestandteil jedes dokumentarischen Arbeitens. Die Protagonisten sind sich natürlich der Anwesenheit des Filmteams bewusst, aber wie sie damit umgehen ist immer eine Frage des Verhältnisses von Objekt und Subjekt. Wenn die Vertrauensbasis vorhanden ist, dann gibt es Momente, in denen die Anwesenheit der Kamera nicht mehr entscheidend ist. Ich hatte schon den Eindruck, dass es mir und dem Team gelungen ist, wie selbstverständlich in das Leben der Gefilmten einzutreten. Das macht die Qualität dokumentarischen Arbeitens aus. Das hat sehr viel damit zu tun, die eigenen Vorstellungen abzubauen und sich dem Moment hin zu geben. Man muss eine Atmosphäre schaffen in der es möglich ist, etwas Neues entstehen zu lassen. Das spüren die Leute auch unbewusst, und dann kommen ganz natürlich und selbstverständlich diese Momente und diese Magie, die letztendlich auch das Kino ausmachen. Um diese Momente geht es und nicht so sehr um die Unterscheidung zwischen real und fiktional.
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Huit Huit auf Urlaub Zuhause
Ricore: In letzter Zeit hört man immer wieder von einer Renaissance des Dokumentarfilms gibt. Würden Sie dem zustimmen?

Schmiderer: Ja. Dem Dokumentarfilm ist es in den letzten Jahren gelungen, immer wieder auch das Kinopublikum zu erreichen. Ich finde es ist höchste Zeit, diese Unterscheidungen zwischen Dokumentar- und Spielfilm fallen zu lassen. Das Substanzielle kann sowohl im dokumentarischen wie im fiktiven Kino vorhanden sein. Es ist wichtig, sich im gleichen Maße mit diesen unterschiedlichen Formen auseinander zu setzen zumal sie sich in vielen Fällen vermischen. Für mich stellt sich immer wieder die Frage: "Wie ist etwas gefilmt?" Und dabei geht es nicht um Spiel- oder Dokumentarfilm

Ricore: Wie erklären Sie sich diesen Wandel?

Schmiderer: Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass selbst die großen Filmfestivals immer mehr auch Dokumentarfilme in ihr Programm nehmen und damit auch vermehrt Dokumentarfilme in den Kinos zu sehen sind. Zudem denke ich, dass junge Menschen sich mit anderen Formen beschäftigen wollen. Es gibt sehr viele Beispiele für dokumentarische Arbeiten, welche ihre Botschaft ebenso gut rüberbringen wie Spielfilme. Der Dokumentarfilm ist ja auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Leben. Dem können wir uns nicht entziehen und gerade der Dokumentarfilm beleuchtet ein breites Spektrum unterschiedlichster Lebensbedingungen und Realitäten das unseren Horizont erweitern kann.

Ricore: Was ist Ihr nächstes Projekt?

Schmiderer: Darin geht es um die Voodoo-Kultur in Benin. Wir sind bereits in der Postproduktion, ein sehr spannendes Projekt.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 10. August 2008
Zum Thema
Othmar Schmiderer arbeitet als Produktions- und Regieassistent beim Theater, bevor er sich Anfang der 1980er Jahre dem Film zuwendet. 2001 erhält die Dokumentation "Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin" zahlreiche Preise. Beim Film über Hitlers Sekretärin Traudl Junge führt Schmiderer zusammen mit seinem Landsmann André Heller Regie, mit dem er noch öfter zusammenarbeitet. Mit "Back to Africa" wendet er sich dem Schwarzen Kontinent zu, "Voodoo - Die Kunst des Heilens" dreht sich um..
Back to Africa (Kinofilm)
Mit Afrika assoziieren wir Europäer meist nur Begriffe wie Armut, Korruption, ausufernde Gewalt und Aids. Othmar Schmiderer setzt diesem Bild ein anderes, positiveres gegenüber. Er begleitet fünf in Europa arbeitende Afrikaner in ihre Heimatländer und zeigt auf, wie lebensfroh und bunt deren Leben in ihrer Heimat ist. Für sie ist Arbeit und Leben in Europa nicht die Erfüllung ihrer Träume, sondern im Gegenteil eine Notwendigkeit, ihre Familien ernähren zu können.
2024