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Wagner Moura auf der Suche nach Drogendealern in brasilianischen Slums
Ideologie in Köpfen der Menschen
Interview: Brasiliens Favelas im Fokus
In Brasilien ist "Tropa de Elite" ein Kassenschlager geworden. Mit dem Goldenen Bären der Berlinale 2008 im Rücken erhofft sich das Filmteam nun ähnliche Erfolge im deutschsprachigen Raum. Bei dem netten und entspannten Gespräch mit Regisseur José Padilha und Hauptdarsteller Wagner Moura in Berlin erzählen die beiden von gefährlichen Erlebnissen während der Dreharbeiten. Dabei wurden fünf Crew-Mitglieder entführt, Drohungen und Verbote wurden ausgesprochen. Nur die Unterstützung der Bevölkerung machte es möglich, das Projekt zu Ende zu bringen.
erschienen am 4. 08. 2009
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Regisseur José Padilha mit seinem Filmteam
Ricore: Wie kam es zu diesem recht eigenwilligen Stil in "Tropa de Elite"? Sie verwenden einen Begleitkommentar und viele Elemente wirken dokumentarisch.

José Padilha: Die Wahrheit ist, ich wusste nicht, wie ich den Film angehen sollte. Zuvor habe ich nur Dokumentationen und Werbespots gedreht. So habe ich versucht, das Filmset in ein Set für Dokumentationen zu verwandeln. Das war meine Herangehensweise.

Ricore: Wie haben Sie die Schauspieler auf die Dreharbeiten vorbereitet?

Padilha: Wir haben unterschiedliche Dinge ausprobiert, um die Schauspieler so echt wie möglich wirken zu lassen. Beispielsweise haben sie vor den Dreharbeiten das Drehbuch nicht bekommen. Jene, welche Drogendealer spielen, brachten wir in Kontakt mit echten Drogendealern, jene welche Polizisten verkörpern, holten sich ihre Vorbereitung von echten korrupten, bösen und guten Polizisten. Wir haben die Schauspieler mit der Realität konfrontiert. Zudem haben wir jenen Schauspieltrainer geholt, der auch bei "City of God" mit den Schauspielern arbeitete.

Ricore: Hatten Sie Spielraum für Improvisationen?

Padilha: Als Regisseur habe ich sehr viel improvisiert. Ich habe den Schauspielern keine genauen Angaben gemacht, was sie tun sollen. So konnten sie in unvorhergesehenen Momenten frei agieren. Zudem verwendeten wir ausschließlich Handkameras. Das schafft die Atmosphäre einer Dokumentation. Als Dokumentarfilmer möchte ich mein Objekt niemals aus den Augen verlieren, und genau das haben wir getan. Mit der Handkamera war es möglich, die Schauspieler auf all ihren Schritten zu verfolgen und ihre Aktivitäten bis ins kleinste Detail einzufangen.
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Wagner Moura als Bope-Spezialagent
Ricore: Ist das auch der Grund, warum viele Ihrer Einstellungen so lange sind?

Padilha: Ja, ich habe die Szenen nie vor ihrem Ende abgebrochen. Beispielsweise die Folterszene mit dem Kind: Wir haben die gesamte Szene gefilmt, weder Licht noch Kameraperspektive gewechselt. Wir haben sogenannte Mastershots gemacht. Am Ende haben wir diese angesehen und gemerkt, dass wir damit eigentlich eine Dokumentation drehen könnten. Wie denkst du darüber Wagner?

Wagner Moura: Während der Dreharbeiten habe ich mich sehr wohl gefühlt. Für einen Schauspieler ist eine solche Herangehensweise mehr als perfekt. Man hat mehr Power als bei üblichen Dreharbeiten.

Ricore: Sie haben in den Favelas gedreht. Wie haben die Menschen dort auf sie reagiert?

Padilha: Nun ja, Sie müssen wissen, dass Wagner Moura und andere Darsteller in "Tropa de Elite" in Brasilien Stars sind. Wagner beendete vor kurzem eine Soap Opera, und war nicht zuletzt deshalb schon vor den Dreharbeiten sehr populär. Als wir in die Favelas gingen, haben uns die Leute mit offenen Armen empfangen. Der Großteil dieser Menschen sind normale Arbeiter, die sehr arm sind. Sie haben uns gut aufgenommen, großes Interesse an unserer Arbeit gezeigt, und nicht zuletzt haben sie uns auch geholfen.

Ricore: Inwiefern?

Padilha: Bei einer Szene kam beispielsweise ein Drogendealer von hinten auf mich zu und sagte: "Hör mal, wie ihr das macht, ist falsch. Ihr müsst das anders machen". Er zeigte uns also, wie wir die Folterszenen richtig drehen müssen. Leider wurden fünf Mitglieder unserer Crew von verkleideten Polizisten gekidnappt. Wir mussten die Dreharbeiten stoppen, Polizeieinheiten stürmten die Favela, wir mussten den Ort wechseln und drehten dann in einer BOPE-kontrollierter Favela. Als Wagner dann in einer Szene ein Kind foltert, sagte ich zu ihm: "Wir werden bestimmt von BOPE gestoppt, wir können diese Szene sicherlich nicht zu Ende drehen." Tatsächlich kamen nach Drehende Leute auf mich zu und meinten, BOPE-Mitglieder wollen mit dir reden. Ich bin zu ihnen hin und habe sie regelrecht angefleht, mich zu Ende drehen zu lassen. Sie sagten dann: "Kein Problem, das ist es nicht. Aber wenn du jemanden folterst, dann musst du es richtig machen." Er zeigte mir also, wie man wirklich foltert und dann haben wir das so auch gedreht.

Ricore: Was genau haben Sie falsch gemacht und welche Ratschläge gaben sie Ihnen?

Padilha: Ich sollte die Hände des Gefolterten am Rücken festbinden und unter die Knie ein kleines Polster legen, damit keine Schrammen zurückbleiben. Uns haben diese Ereignisse total überwältigt. Jene Szenen, die wir an Originalschauplätzen drehten, wurden mehr oder weniger von der Bevölkerung gelenkt. Und da wir auch keine festen Dialoge hatten, waren wir diesen Inputs gegenüber sehr offen und konnten dementsprechend die Szenen verändern. Unser Konzept hat sich dadurch öfters geändert. Beispielsweise die Szene über die Abhandlung der "Strategie". Aber natürlich hatten wir auch unsere Grenzen, sonst könnte man nicht drehen.
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Tropa de Elite
Ricore: Wie ist die Beziehung zwischen den Drogendealern, die für den so genannten Frieden in den Favelas sorgen, den BOPE-Einheiten, die auch für Frieden sorgen und den Menschen, die in den Slums selbst wohnen und am meisten von diesem Frieden betroffen sind?

Padilha: Die Menschen in den Favelas hassen die Drogendealer. Aber sie können das natürlich nicht offen zugeben. Derzeit geschieht in den Favelas etwas Furchteinflößendes, worüber man eigentlich einen Film machen sollte: die "Milicia": Polizisten gehen mit Hilfe ihrer Vollmacht und Handlungsfähigkeit in die Favelas, säubern sie von Drogendealern und belagern sie. Die Bewohner müssen sie daraufhin jedoch bezahlen. Wir haben in zwei solchen Favelas gedreht und haben die Leute gefragt, warum sie ihnen Geld geben. Sie haben uns geantwortet: "Wir lieben sie. Sie schützen uns vor Dealern, denn das sind keine Che Guevaras, keine Helden, sie haben keine soziale Verantwortung." Die meisten Dealer wachsen in großer Armut auf und haben keine Zukunftsperspektiven. Aber wir müssen aufhören, so zu tun, als wären Drogendealer gute, nette, freundliche Personen. Das ist nicht der Fall.

Moura: Drogendealer sind nur da, weil es eine Lücke in der Regierung gibt. In den Favelas ist keine Regierung, die kümmert es wenig, was da vor sich geht. Manche Menschen haben nicht einmal Geld, Kopfschmerztabletten für ihre Kinder zu kaufen. Wen rufen sie dann? Natürlich einen Dealer, der Geld hat und ihnen kurzfristig helfen kann.

Ricore: Glauben Sie, dass durch einen solchen Film das Bewusstsein der Menschen gestärkt wird?

Moura: Ich habe noch nie zuvor einen Film erlebt, der in Brasilien so heiß diskutiert wurde. Er handelt von der Realität, die wir tagtäglich erleben. Ich glaube, solche Diskussionen sind der erste Schritt, um Dinge zu ändern.

Ricore: Haben Sie sich vor den Dreharbeiten Gedanken darüber gemacht, wie die Menschen auf Ihren Film reagieren?

Padilha: Ich wollte mein Publikum wachrütteln. Ich wollte keinen höflichen Film mit einem netten Ende machen, wo der Böse stirbt. Ich wollte keinen Hollywoodfilm drehen. Nichts gegen Hollywood, aber das ist einfach nicht die Realität. Ich wollte mich nicht selbst zensieren, indem ich mir vor den Dreharbeiten den Kopf darüber zerbreche, was das Publikum wohl denken mag.
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Szene aus "Tropa de Elite"
Ricore: Fürchteten Sie sich nicht vor Angriffen von Dealern oder BOPE-Leuten?

Moura: José war sehr mutig. Ich habe immer an ihn geglaubt.

Padilha: Natürlich gab es harte und schwierige Momente, zum Beispiel als fünf Mitglieder der Crew gekidnappt wurden und die Entführer Filmmaterial gestohlen haben. Die Polizei marschierte daraufhin in die Favela ein. Was jedoch dazu führte, dass den Beschützern der Favela viel Geld verloren ging. Wir konnten dann nirgends mehr drehen, weil es zu gefährlich war. Trotzdem gingen wir wieder hinein, weil wir den Drehplan zu Ende bringen mussten. Das war nervlich sehr anstrengend, weil wir rund um die Uhr von Spezialeinheiten beschützt wurden und um uns herum Leute mit Maschinengewehren standen. Ich habe nicht mehr geschlafen und zehn Kilos abgenommen. Das war eine schlimme Phase. Wagner sagte vorhin, ich sei mutig gewesen. Ich habe aber einfach sehr unverantwortlich gehandelt.

Moura: Das sagst du mir erst jetzt? Aber wir alle haben an den Film geglaubt und fühlten, dass er sehr wichtig war, für uns selbst und für unser Land.

Ricore: Wie hat die Regierung auf die Dreharbeiten und den Film reagiert? Sie muss dagegen gewesen sein, da viel Geld von Seiten der Regierung in die BOPE fließt?

Padilha: Geld fließt nicht nur in die BOPE, sondern in die gesamte Polizei. Natürlich reagierte die Polizei auf unsere Dreharbeiten und versuchte, diese zu verhindern. Sie forderten, dass wir die Folterszenen streichen und wollten, dass ich die Namen ehemaliger Polizisten preisgebe, die uns bei der Recherche und beim Training der Darsteller halfen. Ich habe das natürlich abgelehnt und wurde bedroht, unter Arrest gestellt zu werden. Das war der Moment, in dem sich der Gouverneur einschaltete. So entstand ein Kampf zwischen dem Gouverneur und der Polizei, da die gesamte Bevölkerung hinter dem Filmteam stand. Vor dem offiziellen Kinostart verbreitete sich nämlich ein nicht autorisierter Trailer übers Internet. Jeder sah ihn und interessierte sich für das Thema. So war es unmöglich, die Filmarbeit einzustellen.

Ricore: Herr Moura, hat sich bei Ihnen während der Dreharbeiten aufgrund der Brutalität im Film etwas getan?

Moura: Während der Dreharbeiten wurde mein Sohn geboren, genauso wie bei meiner Filmfigur. Es ist tatsächlich ein einschneidendes Ereignis. Als ich von den sehr anstrengenden Dreharbeiten nach Hause kam und meinen Sohn sah, fühlte ich mich sicher und in Frieden.
Berlinale
José Padilha
Ricore: Wie liefen die Dreharbeiten hinter den Kulissen ab?

Moura: Nun ja, es waren nicht unbedingt friedfertige Tage, die wir verbrachten. Das Thema lässt einem natürlich auch nach getaner Arbeit keine Ruhe, weil die Charaktere dermaßen stark sind. Aber ich habe mein Bestes gegeben.

Ricore: Hatten Sie bereits Erfahrung mit Dreharbeiten in den Favelas?

Padilha: In Brasilien werden viele Filme in Favelas gedreht. Bereits mein erster Film "Bus 174" spielt in den Favelas und wurde auch dort gedreht. Zudem bin ich ein Dokumentarfilmer, der schon oft dort gedreht hat. Was allerdings neu hinzukam, war die Polizei. Denn aus irgendeinem seltsamen Grund hat noch niemand in Brasilien zuvor einen Film über die brasilianische Polizei gemacht. Das ist echt komisch, denn in den USA, in Deutschland oder Frankreich gibt es unzählige Filme über die Polizei. Wir versuchten den Charakter und den Geist eines Polizisten zu verstehen und die Welt durch seine Augen zu sehen. Eine Person, die mit seiner Ideologie komplett falsch liegt und in dieser Situation hinein ein Kind bekommt. Diese Perspektive war auch für uns sehr neu. Dabei half allerdings, dass das Drehbuch von einem Polizisten geschrieben wurde. Die Idee dahinter war, mit den Augen eines Polizisten in eine Favela hineinzugehen.

Ricore: Ihr Film ist sehr brutal und zeigt Gewalt und Foltermethoden sehr unverblümt. Wie stehen Sie zu diesem Thema?

Padilha: Der Film zeigt, was Brasilien derzeit macht: Gewalt mit Gewalt zu kontrollieren. Natürlich stimme ich dem nicht zu, aber das ist nun mal die Realität. Aber ich versuche jetzt nicht, die Lösung für das Land in meinem Film zu suchen. Das wäre fatal. Ich würde sanfte Charaktere schaffen, ein nettes Ende und alles wäre gut. Verlässt man dann das Kino, wird man mit der Realität konfrontiert.

Ricore: Warum ausgerechnet der Papstbesuch als Aufhänger für Ihre Geschichte?

Padilha: Ich habe mich entschlossen, den Film im Jahr 1997 anzusiedeln, aufgrund des Papstbesuches. Das war ein Weg zu sagen: "Hört zu, wir töten all die Menschen in den Favelas, damit der Papst die eine Nacht ruhig schlafen kann." Das war die Ironie der Realität.

Ricore: Haben Sie eine Ideologie, nach der Sie arbeiten?

Padilha: Die Sache ist die: In meinem vorherigen Film "Bus 174" habe ich das komplette Gegenteil zu "Tropa de Elite" gemacht. Die Hauptfigur wurde im Laufe seines Lebens immer brutaler. Sein Name war Nascimento, genau wie die Hauptfigur in "Tropa de Elite". Damit hoffe ich, meinem Publikum die Augen zu öffnen, denn in "Tropa de Elite" wird ein brutaler Cop im Laufe seiner Arbeit sanfter und durch die Geburt seines Kindes werden ihm die Augen geöffnet. Nach meinem ersten Film wurde ich der radikalen Linken zugeordnet, nach "Tropa de Elite" war ich auf einmal extrem rechts. Mir wurde nachgesagt, ich würde die brutale Vorgehensweise von Polizisten rechtfertigen. Aber diese Dinge sind mir mittlerweile egal. Ich habe versucht, die gesamte Ideologie aus meinem Film zu nehmen und soziale Prozesse hervorzuheben, die in der Realität vorkommen. Ideologie geschieht nicht in meinem Film, sondern in den Köpfen der Menschen.
erschienen am 4. August 2009
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José Padilha ist ein brasilianischer Regisseur und Produzent. In seiner ersten Lang-Dokumentation "Bus 174" aus dem Jahr 2002 behandelt er Entführung eines Omnibusses, die in einer Tragödie endete. "Tropa de Elite" ist seine erster Spielfilm und konkurriert auf der Berlinale 2008 um den Goldenen Bären im Internationalen Wettbewerb.
2024