Stefan Huhn/Ricore Text
Sunnyi Melles auf der Weltpremiere von "Zettl"
"Besessene sind faszinierend"
Interview: Sunnyi Melles riskiert
In Zoltan Pauls skurriler Ensemblekomödie "Unter Strom" verliebt sich Sunnyi Melles in ihren Chef. Dieser hat allerdings noch eine Affäre mit einem Politiker. Um ihn für sich zu gewinnen, entwickelt sie eine regelrechte Besessenheit. Im Interview verrät uns die 41-jährige Melles ihre Besessenheit. Luxus ist es jedenfalls nicht, denn da es der Produktion hinten und vorne an Geld mangelte, mussten die Theaterdarstellerin und ihre Kollegen sich mit spartanischen Gagen zufriedengeben.
erschienen am 9. 12. 2009
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Sunnyi Melles mit Sohnemann auf der Premiere von "Hannah Montana: Der Film"
Auch im Traum unter Strom
Ricore: Frau Melles, stehen auch Sie ständig unter Strom?

Sunnyi Melles: Wenn ich schlafe, befinde ich mich in einer Ruhephase. Aber im Traum stehe ich ja auch unter Strom (lacht). Doch, es gibt schon Zeiten, wo ich in mir Ruhe gönne und ein bisschen die Seele baumeln lassen kann.

Ricore: "Unter Strom" ist eine schwarze Komödie. Sie spielen Sigrid, eine wahrhaft besessene Frau. Konnten Sie sich mit dieser Figur identifizieren?

Melles: Jeder hat so seine unerfüllten Wünsche oder kämpft um Liebe. Zoltan Pauls Figuren zeigen dies von der extremen Seite. Sigrid versucht zu verstehen, wie sie in diese Situation kommen konnte. Denn sie liebt einen Mann, der in einen anderen Mann verliebt ist. Das ist alles ziemlich schwierig, und es wird nicht einmal moralisiert. Was mir daran gefallen hat, sind diese Extremsituationen. Jeder implodiert. Zoltan lässt das Publikum in die Seele jeder einzelnen Figur blicken. Das hat mich interessiert. Ich musste etwas riskieren.

Ricore: Trifft der Film Ihren Sinn für Humor?

Melles: Ich denke, dass die Menschen darüber lachen können und dass ihnen der Film auch Hoffnung gibt.
Salzgeber & Co. Medien
Unter Strom
Sunnyi Melles: Mitten in der Pampa
Ricore: Bei der Finanzierung des Films gab es Schwierigkeiten. Haben Sie diese mitbekommen?

Melles: In meinen Erwartungen an Gage, Anreise und Übernachtung war ich ziemlich anspruchslos. Wir hatten so gut wie nichts. Aber mir ist der Anspruch an die Arbeit immer noch am wichtigsten. Aber sowas kann natürlich auch anstrengend werden, weil wir keine Möglichkeit hatten, uns aufzuwärmen. Wir waren mitten in der Pampa. Doch das Beisammensein war schön, ein Gefühl, wie auf dem Traumschiff. Ich fühlte mich am Set aufgehoben. Wir waren ja auch auf einer Art Insel, in einer Seelenlandschaft. Das hat mir viel gegeben. Der menschliche und seelische Anspruch hat gestimmt. Und das ist besser als jeglicher Luxus.

Ricore: Hat sich der Humor während der Drehpausen auch auf die Schauspieler übertragen?

Melles: Ich finde, man hat entweder Humor oder man hat ihn nicht. Ich würde sagen, ich habe auf alle Fälle Humor, er wurde mir in die Wiege gelegt. Als gebürtige Ungarin fühle ich mich mit Zoltan auch gewissermaßen seelenverwandt.

Ricore: Worüber können Sie am herzhaftesten lachen?

Melles: Schwer zu sagen. Über Leid. Damit meine ich, mit Humor kann man die nötige Brücke schaffen, um Leid zu ertragen.
Concorde Filmverleih
Sunnyi Melles in "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen"
Man ist nie fertig mit einem Werk
Ricore: Leiden Sie oft?

Melles: Wenn etwas nicht klappt, bin ich völlig hilflos. Wie in der Liebe. Wie Goethe gesagt hat, man ist nie fertig mit einem Werk. Auch nicht als Mensch. Eher will man mehr wissen. Man wird zwar erfahrener im Leben, aber ob man dadurch mit bestimmten Problemen besser umgehen kann, ist nicht gesagt. Ich merke, dass man in diesem Beruf immer von anderen abhängig ist. Probleme kann man im Team besser lösen als alleine. Deswegen bin ich dankbar, wenn ich Leute wie Zoltan treffe. Ich verstehe seine Arbeitsweise. Nicht jeder kann mit jedem Menschen umgehen. Dadurch, dass er ins Extrem geht, hat Zoltan den Zugang zu den Figuren sofort gefunden. Wir alle haben ihm unsere Seele ausgebreitet. Allerdings muss man dem Regisseur vertrauen können - und den Figuren.

Ricore: Um an das Thema Erfahrung anzuknüpfen: Würden Sie dem Spruch "man lernt nie aus" zustimmen?

Melles: Ich halte es mit Goethe, der gesagt hat "Ein Werdender wird immer dankbar sein." So muss man das sehen, sonst wird man zu abgeklärt.

Ricore: Ihre Figur ist besessen. Sind Sie auch besessen?

Melles: Besessenheit hat für mich einen zu negativen Beigeschmack. Das klingt so fanatisch. Diese Figur hat aber auf alle Fälle etwas Fanatisches. Wenn man von einer Sache zu besessen ist, kann das negative Folgen haben. Man muss immer offen sein. Privat würde ich mich nicht als besessen bezeichnen, deswegen reizt mich so etwas auch an einer Figur.
Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Sunnyi Melles auf der Premiere von "Hannah Montana: Der Film"
Ich bin eine Emigrantin
Ricore: Erst vor kurzem waren Sie in "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen" zu sehen. Liegen Ihnen historische und literarische Figuren?

Melles: Ja, das kommt bei mir durch das Theater, ich habe in Shakespeare-Stücken und in "Faust" das Gretchen gespielt. Zuletzt habe ich im Ballett "Romeo und Julia" getanzt. Dadurch bin ich sowieso schon damit getränkt. Es ist einfach in mir, wie mit der Muttermilch eingesogen.

Ricore: Hildegard von Bingen ist nicht nur aus literarischer Sicht bedeutend...

Melles: Ja, wir leben ja auch einen Teil unserer Geschichte. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich bin eine Emigrantin und versuche meinen Kindern meine Vergangenheit und die meiner Eltern nahezubringen. Dazu gehören auch dunkle Kapitel wie Flucht und Vernichtung.

Ricore: Sind Sie der Meinung, dass die jüngere Generation sich zu wenig mit der Geschichte Deutschlands auseinandersetzt?

Melles: Nein, ich denke wir sollten alle froh sein, dass wir hier nicht mehr so viele Kriege erleben müssen. Aber ich denke nicht, dass sich die heutige Jugend zu wenig mit der Vergangenheit beschäftigt.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 9. Dezember 2009
Zum Thema
Musik und Schauspiel wurden Sunnyi Melles praktisch in die Wiege gelegt. Ihr Vater war Musikprofessor und Dirigent, die Mutter Schauspielerin. Seid ihrer Ausbildung an der Münchner Buddenbrooks" und "Vision - Aus dem Leben der Hildegard von Bingen".
Unter Strom (Kinofilm)
Regisseur Zoltan Paul inszeniert mit "Unter Strom" eine solide deutsche Komödie, die an die Screwball-Komödien der 1960er Jahre angelehnt ist. Das namhafte Schauspielensemble merzt einige Schwächen des Drehbuchs gekonnt aus. Der Film lebt vor allem von seinen pointierten Dialogen und der teilweise schwarzen Komik. "Unter Strom" reicht zwar nicht an die Großen des Genres heran, liefert dennoch passable Unterhaltung.
2024