dcm
Jean-Pierre Jeunet am Set von "Die Karte meiner Träume 3D"
'Filmemachen ist ein selbstsüchtiger Prozess'
Interview: Die egoistische Welt des Jean-Pierre Jeunet
In der gleichnamigen Verfilmung von "Die Karte meiner Träume 3D" erzählt Kinomagier Jean-Pierre Jeunet die Geschichte des hochintelligenten T.S. Spivet, der ein Perpetuum mobile erfindet und dafür mit einem bedeutenden Preis geehrt wird. Um die Auszeichnung entgegen zu nehmen, macht sich das Kind allein auf die abenteuerliche Reise durch die USA. Filmreporter.de hat sich mit Jeunet im Rahmen des Filmfest München über sein Filmmärchen unterhalten. Der Regisseur von "Die fabelhafte Welt der Amélie" und des fantastischen "Stadt der verlorenen Kinder" sprach über seine Faszination für 3D und erklärte, warum er ein Außenseiter der Filmindustrie ist.
erschienen am 9. 07. 2014
dcm
US-Autor Reif Larsen mit Hauptdarsteller Kyle Catlett am Set
Realistischer als Jeunets anderen Filme
Ricore Text: Warum haben Sie "Die Karte meiner Träume" in 3D gedreht?

Jean-Pierre Jeunet: Die Vorlage von Reif Larsen ist voller Zeichnungen und Illustrationen vom jungen Protagonisten. Das hatte mich sofort auf den Gedanken gebracht, diese Elemente mit 3D durch den Raum schweben zu lassen. Ich habe schon immer 3D geliebt und glaube, dass alle meine Filme mit dieser Technik gedreht hätten werden können. Stellen Sie sich "Delicatessen" oder "Die fabelhafte Welt der Amélie" in 3D vor? Auch der Au0erirdische in "Alien - Die Wiedergeburt" hätte ein tolles Monster abgegeben.

Ricore: Filmt man in 3D anders?

Jeunet: Ja. Ich wollte nicht aus kommerziellen Gründen mit 3D arbeiten, sondern damit erzählen. 3D setzt ein langsameres, kontemplativeres Erzählen voraus, es funktioniert nicht mit Actionfilmen. 3D und Action ist ein Widerspruch in sich. Dass es so viele Actionfilme in 3D gibt, hat wirtschaftliche Gründe. Es geht nur darum, Geld zu verdienen. Qualität ist zweitrangig. Auf diese Weise wird der 3D-Film zerstört.

Ricore: Der Film spielt in den USA, welches Sie in ein nostalgisches, märchenhaftes Licht tauchen.

Jeunet: Ich zeige das Amerika von heute. Das Hinterland der USA mag in "Die Karte meiner Träume" veraltet aussehen, doch die Menschen leben dort wirklich wie wir es zeigen. Auf der Ranch der Familie Spivet ist die Zeit stehengeblieben

Ricore: Dennoch betrachten Sie das Land mit den Augen eines Kindes. "Die Karte meiner Träume" erinnert streckenweise an die frühen Filme von Steven Spielberg. Kann man auch Sie als Jungen im Körper eines Erwachsenen bezeichnen?

Jeunet: Wenn Sie mich mit Spielberg vergleichen, dann betrachte ich das als großes Kompliment. Als "Amélie" herauskam, erhielt ich von ihm einen Brief, in dem er mich zur Oscar-Nominierung beglückwünschte. Wir haben den Preis damals nicht gewonnen, weil Harvey Weinstein [damaliger Chef des Filmstudios Miramax Films, das die US-Verleih-Rechte von "Amélie" hielt; Red.] in dem Jahr von der Oscar-Akademie boykottiert wurde. Ja, ich bin tatsächlich wie T.S. Spivet. Als Kind war ich sehr schüchtern und betätigte mich als Erfinder. Es hatte weniger mit Wissenschaft als vielmehr mit bewegenden Bildern zu tun. Mit neun habe ich ein Theaterstück inszeniert, experimentierte mit Hilfe eines Viewmasters mit 3D und mit 16 entdeckte ich die Super-8-Kamera für mich. Ich werde mein Leben lang den Geruch und den Sound dieser Kamera nicht vergessen. Es war der größte Moment in meinem Leben.

Ricore: Gibt es auch Parallelen zwischen T.S. Spivet und dem Regisseur Jean-Pierre Jeunet, der sich in der Filmindustrie als Außenseiter fühlt?

Jeunet: In gewisser Weise ja. Jean Reno hat einmal gesagt, dass ich Filme um des Spaßes wegen mache. Das ist mir sehr wichtig. Es ist meine Philosophie. Manchmal gewinne ich, wie T.S. Spivet, einen Preis. Um die Auszeichnung entgegen zu nehmen, fahre ich allerdings nicht im Zug, sondern nehme den Flieger (lacht). Wie der Junge rede ich manchmal mit den Medien über meine Arbeit und kehre dann wieder zurück zu meiner 'Ranch', um an meinen Skizzen zu arbeiten.

Ricore: "Die Karte meiner Träume" hat einige Comic-Elemente. Wurden Sie von Comics inspiriert?

Jeunet: An manchen Stellen strahlt der Film tatsächlich den Geist von Comicbüchern aus. Ansonsten ist "Die Karte meiner Träume" realistischer als meine anderen Filme. Es geht um eine emotionale Familiengeschichte.
Kinowelt
Jean-Pierre Jeunet
Jean-Pierre Jeunet: schockierender Zustand der Medien
Ricore: Zum Realismus des Films gehört auch ein kritischer Blick auf die Medienlandschaft.

Jeunet: Ja, "Die Karte meiner Träume" bot mir die Möglichkeit, die Lage der Medien zu reflektieren. Den Medien geht es vor allem um Kontroversen, Skandale und Polemik. Es ist ein Zustand, der mich schockiert. Es ist sehr zynisch.

Ricore: Sie gelten als Filmemacher, der keine künstlerische Kompromisse eingeht. Dennoch bekommen Ihre Filme großen Publikumszuspruch. "Die fabelhafte Welt der Amélie" gehört zu den erfolgreichsten französischen Filmen aller Zeiten. Ist das Publikum intelligenter, als so mancher Produzent es zugeben will?

Jeunet: Das weiß ich nicht. Ich mache meine Filme für mich. Filmemachen ist ein selbstsüchtiger Prozess. Ich bezeichne mich immer als Koch, der eine Mahlzeit zubereitet. Ich koste davon und wenn mir das 'Essen' schmeckt, dann bin ich glücklich darüber und teile es mit anderen. An vorderster Stelle stehe aber ich. "Die Karte meiner Träume" hätte auch anders umgesetzt werden können. Ich fand es jedoch interessant, den Roman auf meine Weise zu verfilmen. Wie gesagt, als Künstler bin ich selbstsüchtig.

Ricore: Ein Film sollte also nicht für Zuschauer gemacht werden?

Jeunet: Er sollte mit den Menschen geteilt werden. Wenn sie das künstlerische Produkt mögen, dann ist man als Künstler glücklich. Wenn nicht, ist man enttäuscht. Es ist immer dieselbe Geschichte. Dennoch sollte man als Künstler sich selbst gegenüber aufrichtig sein. Wenn man für andere arbeitet und nicht mag, was man tut, kommt nichts Aufrichtiges dabei heraus.

Ricore: Wie ist "Die Karte meiner Träume" in Frankreich angekommen.

Jeunet: Er blieb hinter den Erwartungen zurück, weil wir den Film in Englisch gedreht haben. In Frankreich mag man keine englischsprachigen Filme. Daher bin ich auf die Auswertung in den USA gespannt. Leider stellt sich Mr. Weinstein wieder quer.

Ricore: Also will er auch Ihren Film umschneiden?

Jeunet: Natürlich. In Frankreich sagen wir dazu: Er möchte an den Baum pinkeln.
StudioCanal
Delicatessen - Blu Cinemathek
Eine Frage der Macht
Ricore: Mit welcher Begründung will er das tun?

Jeunet: Fragen Sie ihn, ich habe keine Ahnung. Ich glaube, er weiß es selbst nicht. Es ist eine Frage der Macht. Er hat es offenbar nötig, einen Film zu zerstückeln. Er gibt ihn einem Cutter und verlangt, daraus einen amerikanischen Film zu machen.

Ricore: Können Sie den Film nicht zurückziehen?

Jeunet: Es ist zu spät, der Vertrag ist schon unterschrieben und Gaumant [Koproduzent von "Die Karte meiner Träume"; Red.] möchte das investierte Geld wieder haben. Ich sagte zwar, dass ich den Final Cut haben will, aber das ist Weinstein egal. Es ist die gleiche Situation wie bei "Grace of Monaco", "Der Butler" und "Snowpiercer". Ich selbst machte vor zwei Jahren diese Erfahrung, als er "Delicatessen" für den US-Markt bearbeiten wollte.

Ricore: Wie ist die Sache ausgegangen?

Jeunet: Wir haben uns geweigert. Daraufhin hat er den Film auf Video herausgebracht und er wurde ein großer Erfolg. "Amélie" hat er akzeptiert, weil der Film international ein großer Erfolg war.

Ricore: Stimmt es, dass Sie derzeit an einem Filmprojekt über Roboter arbeiten?

Jeunet: Woher wissen denn das schon? (lacht) Ja, wir arbeiten derzeit an einem Film über künstliche Intelligenz. Es ist ein interessantes und verrücktes Thema, das in Richtung Komödie geht. Wir befinden uns noch im Anfangsstadium, sind aber auf einem guten Wege.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 9. Juli 2014
Zum Thema
Regisseur Jean-Pierre Jeunet hat bei "Die Karte meiner Träume 3D" nichts dem Zufall überlassen. Er inszenierte den 3D-Kinderfilm, produzierte ihn und hat mit Guillaume Laurant auch das Drehbuch verfasst. Eine vielversprechende Ausgangslage, denn beide entwickelten bereits das Script zu Jeunets bisher größtem Kinoerfolg, "Die fabelhafte Welt der Amélie" im Jahr 2001.
Oft ist der Weg von Kurzfilmen, Musikvideos und Werbespots bis hin zum Film weit und beschwerlich. Nicht so beim französischen Regisseur und Drehbuchautor Jean-Pierre Jeunet, der sich schon in seinen frühen Arbeiten durch seine ausgeprägte visuelle Gestaltungskraft auszeichnet. So ist es nicht verwunderlich, dass er bereits für seine Werbespots in den 1980er Jahren mit dem höchsten französischen Filmpreis, dem Delicatessen", den er wie alle frühen Filme im Tandem mit Marc Caro inszeniert. Es..
2024