Andrea Niederfriniger/Ricore Text
Regisseur Martin Enlen
Ein außergewöhnliches Drehbuch
Interview: Martin Enlen und der Inzest
Seit seinem Abschlussfilm "Aus gutem Grund" (1991) gilt Regisseur Martin Enlen als Spezialist für schwierige Themen. Für die erste Folge der Fernsehreihe "Kommissar Süden" hat er sich erneut eine provokante und schwierige Geschichte ausgesucht. In unserem Gespräch erzählt Enlen, was ihn an der Auseinandersetzung mit dem Thema Inzest gereizt hat.
erschienen am 8. 04. 2009
ZDF/Erika Hauri
Kommissar Süden und der Luftgitarrist
Ricore: Sie sind bekannt, als jemand, der immer mit heißen Eisen zu tun hat. Ist Kommissar Süden auch ein heißes Eisen?

Martin Enlen: Der Herr ist auch so ein heißes Eisen, ja.

Ricore: Inwiefern?

Enlen: Es geht um Inzest. Ich habe 1994 meinen ersten und einzigen Kinofilm gemacht, bei dem ich auch das Drehbuch geschrieben habe. Der Film handelte von Kindesmissbrauch und Inzest. Das war ein Drama und hat sich ausschließlich mit dem Thema beschäftigt. Ich habe das Thema sehr ausführlich recherchiert und danach wollte ich mich nie mehr damit beschäftigen. Das Thema hat mich sehr vereinnahmt. Seither galt ich als Spezialist für solche Fälle und habe sehr viele Angebote in dieser Richtung bekommen. Aber meistens waren die Drehbücher nicht gut und es hat 15 Jahre gedauert, bis Kommissar Süden daherkam und ich mich wieder auf so ein Thema eingelassen habe.

Ricore: Wo ist der Unterschied bei Kommissar Süden?

Enlen: Die Geschichte ist anders erzählt und auch die Art und Weise wie Tabor Süden sich damit auseinandersetzt, macht den Unterschied. Er reflektiert das Thema und das fand ich außergewöhnlich und spannend.
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Regisseur Martin Enlen: "Kommissar Süden"
Ricore: Hätten Sie die Folge auch gedreht, wenn es nicht um dieses Thema gegangen wäre?

Enlen: Ja. Die Frage war eher, will ich mich diesem Thema noch einmal annehmen. Dass ich das Angebot annehme, war sehr schnell klar. Wenn man eine Reihe eröffnen und etwas freier gestalten darf, ist das etwas Besonderes.

Ricore: Die Auseinandersetzung mit Inzest ist gewagt. Normalerweise verurteilt man Inzest von vorne herein. Plötzlich kommt jemand und sagt: "Naja, vielleicht gibt es noch eine andere Seite".

Enlen: Produzent Oliver Berben war derjenige, der aus den Büchern das ausgewählt hat, was als erstes gemacht werden soll. In der normalen Süden-Reihenfolge kommt diese Geschichte nicht an erster Stelle. Oliver war es unglaublich wichtig, dass Kommissar Süden in der ersten Folge schon provoziert. Damit sich die Leute mit dem Thema auseinandersetzen. Wichtig war auch, dass Süden mit seiner Sicht scheitert. Das Gedankenbild, das er entwirft, mag richtig sein, aber er muss am Ende erkennen, dass er sich geirrt hat. Dass er nicht auf wahre Liebe stößt, sondern eine gebrochene Frau vorfindet. Das Scheitern auf der Leinwand zu zeigen, war Oliver ganz wichtig. Die Folge ist einzigartig.
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Das erfolgreiche Kommissarenduo Noethen und Feifel
Ricore: Wie sind Sie damit umgegangen?

Enlen: Für mich war es heikel. Ich habe auch gedacht, naja, eigentlich habe ich eine klare Position dazu. Aber ich fand es wichtig, dass jemand so einen Gedanken auch zulässt. Gerade für eine Figur wie Kommissar Süden. Ich glaube, nur wenn er solche Gedanken erlaubt, kann er wirklich anfangen, Menschen zu verstehen. Nur so kann er sich wirklich in sie hineinversetzen. So etwas passiert einem auch als Regisseur. Wenn ich mich Figuren nähere, muss ich mich auch in sie hineinversetzen. Auch wenn ich nicht ihre Meinung teile. Kommissar Süden findet einen Vater vor, der wirklich liebt. Sich so damit zu beschäftigen, fand ich einen provokativen, aber auch interessanten Ansatz.

Ricore: Standen Sie unter Druck, weil Sie den ersten Teil einer längeren Reihe verfilmen sollten?

Enlen: Der Druck ist auf jeden Fall da. Man weiß, alle starren auf diesen ersten Teil und daran wird die Reihe gemessen. Ich habe auch Druck empfunden, weil ich das Drehbuch so außergewöhnlich gut fand. Ich mache sehr viele Krimis und habe seitdem keinen mehr gemacht, aus Schwierigkeiten, ein Drehbuch zu finden, dass den Standard halten kann.
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Regisseur Martin Enlen
Ricore: Wie sah die Zusammenarbeit mit Dominik Graf aus?

Enlen: Die Zusammenarbeit zwischen mir und Dominik Graf bestand aus der Auswahl der Hauptrollen, wir haben uns in den Casting-Gesprächen abgestimmt. Es war sehr ungewöhnlich, dass zwei Regisseure beim Casting sitzen. Das hatten die Schauspieler auch noch nicht erlebt. Wir haben uns auch bei Motiven abgestimmt und ausgetauscht. Das war es aber auch. Sieht man beide Filme, sieht man auch zwei unterschiedliche Handschriften. Das ist gut und wichtig.

Ricore: Werden Sie bei der Reihe bleiben, falls es weitergeht?

Enlen: Das hoffe ich. Ich hoffe vor allen Dingen, dass die Reihe fortgeführt wird. Nach der ersten Folge hätte ich wahnsinnig gerne weitergedreht. Ich kannte die Figur und wollte sie weitererzählen. Ich finde es aber wichtig, dass der Blickwinkel von anderen Regisseuren mit eingebracht wird. Das macht die Qualität bei Reihen aus. Ich selber wünsche mir, in dieser Art und Weise weitererzählen zu können.

Ricore: Vielen Dank für das Gespräch.
erschienen am 8. April 2009
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2024