Concorde Filmverleih
Lars von Trier, Regisseur von Dogville
Von Trier entlarvt die Unmenschlichkeit
Feature: Großes Theater
Wenn Lars von Trier neue Filme in Cannes präsentiert - und das macht der Däne mit Erfolg und in schöner Regelmäßigkeit - dann kann man davon ausgehen, dass er das Publikum entzweien wird wie einst Moses das rote Meer. Von Triers Filme sind je nach Standpunkt stets irgendwo zwischen genial und unausstehlich anzusiedeln. Für manche sind sie beides zugleich. Das galt für den Gewinner der goldenen Palme, "Dancer in the Dark", der an der Croisette mit Applaus und Buhrufen bedacht wurde, und das gilt für "Dogville", von Triers neuestes Meisterwerk.
erschienen am 22. 10. 2003
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Paul Bettany und Nicole Kidman in: Dogville
Nach einem Abstecher in die Gefilde des Musicals - natürlich auf seine eigene Weise, also fernab der Genre-Konventionen - hat sich von Trier dem Theater zugewandt. Einer Brecht'schen Form von Theater, die mit Kino nur noch insofern zu tun hat, als dass man dieses Spektakel eben nur auf der Leinwand zu sehen bekommt. Ansonsten aber dominiert in "Dogville" eine überdimensionierte Bühne mit wenigen Requisiten. Der Film spielt in einem kleinen Dorf am Fuße der Rocky Mountains, angedeutet durch einen Pappmaché-Felsen an einem Ende der Bühne. Auf Häuser, Wände, Türen oder auch auf die mehrmals erwähnten idyllischen Stachelbeerbüsche hat von Trier gleich ganz verzichtet - stattdessen sind nur ihre Umrisse mit Kreide auf den Boden gezeichnet, wie man es von Tatorten nach einem Verbrechen kennt.

Und damit kommt man der Wahrheit von "Dogville" auch schon verdammt nahe, denn das kleine Dörfchen gleichen Namens wird im Laufe des Films selbst immer mehr zum Tatort für ein höchst merkwürdiges Verbrechen, das sich schlicht "Zivilisation" nennt. Die junge und hübsche Grace (Nicole Kidman) kommt auf der Flucht vor einer Gangsterbande nach Dogville und findet dort Unterschlupf. Tom (Paul Bettany), der junge Dorf-Intellektuelle und Moralist setzt sich dafür ein, dass Grace sich in dem isolierten Bergdörfchen verstecken darf. Als Gegenleistung und als Erweis ihrer Dankbarkeit soll sie die Dorfbewohner bei deren täglichen Aufgaben unterstützen. Die haben zwar zunächst überhaupt nichts für Grace zu tun - aber natürlich findet sich schon bald eine Aufgabe; und so gerät Grace stetig in ein unumkehrbares Abhängigkeitsverhältnis zu den Menschen von Dogville. Ein Verhältnis, das in einer Verkettung von Zufällen und menschlichen Unzulänglichkeiten mehr und mehr Züge der Sklaverei annimmt, bis Grace schließlich zur festgeketteten Dorfprostituierten verkommt - und von dem Menschen verraten wird, der sie liebt. Und gerade wenn man meint, dass es nicht mehr absurder und unmenschlicher werden kann, macht sich von Trier einen Spaß daraus, eine fulminante (Er)Lösung für alles Vorhergehende, für Leid, Schmerz und Erniedrigung zu finden.
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Nicole Kidman und Lauren Bacall in: Dogville
Dass gerade die Unmenschlichkeit eine typisch menschliche Charaktereigenschaft ist, führt von Trier dem Zuschauer unnachahmlich vor. Diese Erkenntnis gilt im übrigen nicht nur für den Inhalt des Films, sondern durchaus auch für das Drumherum. Knapp drei Stunden dauert von Triers Machwerk, das in neun Kapitel und einen Prolog aufgeteilt ist, was gemeinsam mit dem Bühnenhaften und Requisitenlosen des Films zu einer extremen formalen Stilisierung führt. Gerade am Anfang quält von Trier sein Publikum mit einigen Längen, die zwar im Kontext des Films notwendig und stimmig sein mögen, aber nichtsdestotrotz ganz schön aufs Sitzfleisch gehen können. Doch wer sich durch das erste Drittel gequält hat, wird anschließend mit einigen der perfidesten Vorgänge "belohnt" und unterhalten, die in den letzten Jahren im Kino zu beobachten waren. Gnadenlos wird uns unser eigenes jämmerliches Dasein vorgeführt, unser unbeabsichtigt mieser menschlicher Charakter.

Zeter und Mordio schreien in Cannes vor allem die US-amerikanischen Filmkritiker und veranstalten fast ebenso großes Theater wie von Trier in seinem Film. Sie werfen ihm eine unberechtigte, unzutreffende und ahnungslose Kritik der amerikanischen Gesellschaft vor. Diese Reaktion dürfte von Trier mit seiner Aussage provoziert und gewollt haben, er halte, so von Trier, die USA für keinen Deut schlechter, aber auch keinen Deut besser als die von ihnen zu Schurkenstaaten ernannten Länder. Ohnehin lässt ihn der Vorwurf der US-Kritik, man könne keinen Film über ein Land machen, das man selbst nicht kenne, vollkommen kalt. Schließlich waren ja die US-Filmemacher, die "Casablanca" drehten, auch niemals in Marokko gewesen, erklärt der dänische Regisseur. Doch falscher Nationalstolz ist bei von Triers neuem Film ohnehin Fehl am Platz. Die bittere Erkenntnis ist vielmehr, dass Dogville überall sein könnte.

So wie von Trier es sich sehenden Auges mit den Amerikanern verspielt hat, so schwer macht er es auch den Fans seiner Hauptdarstellerin Nicole Kidman. Wer sich einzig aufgrund ihres lockenden Namens ins Kino verirrt, wird nicht wissen, wie ihm geschieht. Klar: Frau Kidman hat in den letzten Jahren zunehmend anspruchsvolle Rollen gesucht und in Filmen wie dem mehrfach Oscarprämierten "The Hours" gefunden. Dennoch hat ihr Auftritt in "Dogville" eine neue Dimension, man darf schon jetzt gespannt sein, wie viele Kidman-Fans entzürnt aus den Kinos stürmen, angesichts der Bosheiten, die ihrem Star hier angetan werden. Eine gewisse Boshaftigkeit würde sich von Trier auch gar nicht selbst absprechen. In der Hinsicht ist er wahrscheinlich nicht schlechter, aber auch nicht besser als die zunächst vermeintlich gutmütigen Bewohner von Dogville - oder als wir selbst.
erschienen am 22. Oktober 2003
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Lars von Trier zählt zu den innovativsten Regisseure seiner Generation. 1956 in Kopenhagen geboren, spielt er bereits als Zwölfjähriger in einer dänischen Kinderfernsehserie mit. Später studiert er an der dänischen Filmhochschule, die er im Jahre 1983 erfolgreich beendet. Mit dem Diplom in der Tasche beginnt er beginnt sofort Filme zu drehen. Er sichert sich bald die Aufmerksamkeit des Fachpublikums. Obwohl er nie leichte Kost produziert und seine Werke den Zuschauer meist in verstörende..
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